Von den französischen T3 – Besitzern erfahre ich, dass die Fähre um halb zehn ablegen soll. Es bleibt mir somit noch genügend Zeit um noch einmal am Ufer des Flusses entlangzugehen.
Das ist also der große Fluß, der in der Entdeckungsgeschichte des neuen Kontinents, der Erforschung der Polarregionen und der Entwicklung neuer Handelswege eine so große Rolle spielte. Auf dem Eisberge einst bis über Quebec hinaus nach Südwesten drifteten und auf den ich nun mit großer Ehrfurcht blicke. Es erfasst mich einmal mehr ein unbeschreibliches Glücksgefühl. Ich habe ihn gesehen, habe ihn gerochen und nun überquere ihn zum zweiten Mal mit dem Schiff. Wir durchfahren ein Schutzgebiet für Meeressäuger und so lege ich mir Fernglas und Teleobjektiv in Reichweite. Doch ich sollte heute keinen Wal zu Gesicht bekommen. Es ist schade, aber ich bin nicht enttäuscht. Ich durfte auf meiner Reise ja so viel erleben, habe so viele neue Erfahrungen gemacht, habe mein Leben, bereichert und angefüllt mit für mich einzigartigen Geschichten. Da ist es doch nur allzu selbstverständlich, dass es Dinge gibt, die ich noch nicht gesehen habe und wenn ich sie vielleicht dann doch eines Tages sehe, dann kann ich mich umso glücklicher schätzen.
Um halb zwölf macht die Fähre in Rivière du Loupe fest und ich setze meinen Weg nach Süden fort. Als ich einen Hinweis zu einem „Historic Site“ sehe folge ich diesem. Bald bin ich an der Küste, wo ein großer, sehr modern wirkender Leuchtturm alles überragt.
Direkt neben dem Leuchtturm steht ein U-Boot, das zu einem Maritim-Museum gehört. Leider prangt hier in großen Lettern ein Hinweis, dass U-Boot und Museum geschlossen sind. Die Saison ist beendet und das bekam ich seit dem Labour Day, jeweils dem erstem Montag im September, immer öfter zu spüren. Campingplätze, Museen und andere touristische Einrichtungen schließen dann ihre Pforten und für den Reisenden wird es von da an deutlich anders. So ziehe ich weiter. Um ein wenig schneller voran zu kommen nutze ich wieder den Highway #20. Irgendwann fällt mir ein polterndes Geräusch auf, dessen Ursprung ich am FidiBus vorn rechts vermute. Da ich unauslöschlich das Schlagen der Bremse auf die Bremsscheibe nur zu klar in meinem Kopf habe, kann ich einen erneuten Bremsschaden als Ursache ausschließen. Vielmehr vermute ich ein ausgeschlagenes Achsgelenk. Angesicht der vielen Kilometer über Schotter- und Höllenwege würde mich das nicht wundern. Ich fahre also wiedereinmal unter hundert Km/h, verlasse deshalb den Highway #20 und biege auf den kleinen, parallel verlaufenden Highway #13 ab. Zu spät! Schon sehe ich im Rückspiege das blau-rote Geflacker meiner Freunde von der Polizei. Ich kenne die Übung. Rechts raus, Fenster herunterfahren, Hände aufs Lenkrad, und neutraler Blick. Freundlich wurde ich darauf hingewiesen, dass ich 20 km/h unter Speed Limit war. So langsam schwillt mir der Kragen, doch ich schaffe es, die Ruhe zu bewahren. Wer fühlt sich gestört? Frage ich und erfahre, dass ein LKW-Fahrer Meldung machte. Ich war noch nicht einmal zehn Kilometer mit achtzig Km/h unterwegs. Innerlich kochend erkläre ich dem Polizisten mein Problem und biete ihm an, sich von dem Gerumpel zu überzeugen. Er lehnt ab und lässt mich ziehen.
Dieser unvorhergesehene Stopp und die folgende erfolglose Ursachensuche kosteten mich erneut Zeit. Wieder wurde es dunkel und auf dieser wenig befahrenen Straße mit ihren abgrundtiefen Schlaglöchern lassen mich dem Hinweis nach Pugwash folge. Der Name dieses Ortes hat einen Klang, der mir auf irgendeine Weise bekannt vorkommt, doch kann ich die Verbindung zu meinen grauen Zellen nicht herstellen. Ich fahre über eine Brücken in den Ort und finde die Zufahrt zu dem empfohlenen Schlafplatz durch eine Schranke versperrt. Erneut fahre ich über den Pugwash River, wo ich bei meiner Ankunft den kleinen Fischerhafen am nördlichen Ufer der Flusses bemrkt hatte.
Hier finde ich nahe der Mole einen Platz, der gegen allzu neugierige Blicke von der Straße aus nicht einsehbar ist Zwei Dosen Bier und ein Topf Baked Beans helfen mir das Feierabendgefühl zu erzeugen, das mir einen guten Schlaf garantiert. Ein Blick aus dem Fenster lockt mich noch einmal hinaus aus der Wärme des FidiBus‘ in die kalte Nacht. Der Vollmond und die Wolken liefern ein grandioses Schauspiel. Mal steht der Mond groß und klar am Himmel, ein andermal bedeckt er sich mit einem Schleier aus feinen hohen Stratuswolken um im nächsten Augenblick ganz oder teilweise von großen Dunklen Wolken verborgen zu werden, deren Ränder vom Licht des Mondes gerahmt werden. Es ist ein dramatisches Schauspiel, an dem ich mich kaum satt sehen kann.
Am nächsten Morgen möchte ich als Erstes wissen, weshalb mir der Name des Ortes Pugwash so im Kopf herum spukt. Auf dem Weg zum Bäcker fahre ich an einem „Friedensmuseum“ vorbei und überall an den Straßen hängen Regenbogenfahnen und die blauen Fahnen mit der Friedenstaube. Und dann fällt es mir wieder ein: Pugwash in Nova Scotia gilt als die Wiege der Friedensbewegung. Die Details zu der Geschichte wollen mir aber nicht einfallen. Die Bäckerin in der kleinen Bäckerei, in der ich bei einem Kaffee und einem Croissant den Tag beginne, hilft mir jedoch auf die Sprünge. Hier nahm die Pugwash-Bewegung ihren Anfang, jener Bewegung in der Wissenschaftler, Politiker und Philosophen über Fragen zur allgemeinen Weltentwicklung und der atomaren Bedrohung diskutierten. Der Ort an dem diese Konferenzen ihren Anfang nahmen befindet sich hier in Pugwash in der Thinkers Lodge, heute ein Museum und ein „Historical Site“. Ich parke den FidiBus im Ort und laufe am Ufer des Pugwash-River entlang. Schon von Weitem leuchtet mir das weiße Holzhaus mit seinem prächtigen Eingang entgegen. Ich sehe sie vor mir, die Herren, denn es waren zu der Zeit ausschließlich Herren, die die Gefahren der atomaren, biologischen und chemischen Waffen als Bedrohung für die gesamte Erde und die Möglichkeiten ihrer Begrenzung oder gar ihrer Vernichtung diskutierten. Von hier ging ein wesentlicher Beitrag zu dem Atomwaffenteststopp aus und an ein Mitglied aus ihren Reihen wurde 1965 der Friedensnobelpreis verliehen. Ich kann es nicht leugnen, dass ich an diesem Ort einen gro0ßen Respekt empfand und doch gleichzeitig erkennen muss, welch ein Kampf gegen Windmühlenflügel diese Konferenzen vielleicht sind.
Auf dem Weg zu der kleinen Anhöhe, auf deren Plateau die Villa steht, laufe ich über Trümmer, fortgespülte Boardwalks und eilig aufgeräumte Stege der Hummerfabrik. Der Hurrikan Fiona hat hier seine Spuren hinterlassen. Durch die blinden und verstaubten Scheiben der Thinkers Lodge versuche ich einen Blick in ihr Inneres zu bekommen, und was ich sehe füllt mich mit Enttäuschung. Zwar sehe ich prächtige alte Möbel in dem Salon und den Zimmern des Erdgeschosses, doch dazwischen ist jeder freie Platz mit Gerümpel gefüllt. Der Anblick kommt mir wie eine Entweihung dieses historisch so bedeutungsvollen Ortes vor. Erst später bringe ich dies mit dem Hurrikan in Verbindung und möglicherweise hat man versucht,Hab und Gut auch hier vor der Zerstörungskraft des Sturmes in Sicherheit zu bringen.
Ich kehre zurück zu meinem FidiBus und setze meine Reise fort nach Halifax. Mich packt plötzlich eine große traurige Welle, die über mir zusammenschlägt und Tränen steigen in mir auf. Das war’s; meine Reise ist beendet. Freilich freue ich mich darauf, Wayne und Jill sowie ihre Eltern Ainsley und Sharon wiederzusehen und noch ein wenig Zeit mit ihnen zu verbringen, doch für mich ist das etwas ganz anderes als das vergangene Reisen. Mir fehlt der stete Ortswechsel und die damit einhergehenden wechselnden Eindrücke, Erfahrungen und Erlebnisse. Das im wahrsten Sinne des Wortes bewegte Leben in diesem Land findet heute sein Ende. Der letzte Vollmond die letzte Nacht im FidiBus. Mit jedem Tag gibt es nun ein neues letztes Mal.
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