Es ist Sonntag der 15. Oktober 2022. Jill möchte mir ihre Eierproduktion zeigen. Der Weg zu der Hühnerfarm ist nicht weit,Nur etwa zweihundert Meter von ihrem Haus entfernt befindet sich eine große Halle. Eigentlich sind es zwei Hallen, die miteinander verbunden sind. Als erstes müssen die Schuhe getauscht werden, in ein Paar, das ausschließlich hier in den Hallen getragen werden darf. Über unsere Kleidung ziehen wir einen weißen Overall. Ich komme mir vor wie ein Kommissar bei der Mordkommission. Letzter Akt der Vorbereitung ist, dass wir die Schuhsohlen noch einmal in einem Becken mit einer rötlichen Flüssigkeit desinfizieren. Dann ist es so weit und wir betreten einen Raum, in dem über einem langen Band die Eier herauslaufen. Sie werden visuell von Jills Cousin kontrolliert, durchleuchtet um verdorbene Eier heraus zu sortieren und werden dann automatisch in Eierkartons gesetzt. Von hier aus gelangen sie anschließend zum Abtransport ins Lager. Wir gehen weiter in den eigentlichen Stall. Der Gestank nach Hühnermist und das Gegackere der Tiere ist gewöhnungsbedürftig. Fünfzehn bis zwanzig Hühner sind hier in kleinen Käfigen auf Rosten untergebracht. Ein Bereich des Käfigs gilt als Ruhebereich. Die Eier fallen durch den Rost auf die Förderanlage, der Mist wird über ein Förderband regelmäßig entsorgt, und getrocknet. Ich habe die mehrstöckigen Reihen nicht gezählt, aber Jill sagte mir, dass hier etwa zwanzigtausend Hühner leben, in der Halle neban seien es ein paar weniger. Alle fünfzehn Monate werden die Käfige mit neuen Hühnern besetzt, die alten Tiere werden getötet und weiterverarbeitet, meistens zu Hühnerfutter. Temperatur, Belüftung, Futter und Licht werden automatisch und computerüberwacht geregelt. Jede Unregelmäßigkeit wird direkt alarmiert und auf ihr Handy gemeldet. Ob sie Probleme mit Tierschutzaktivisten habe frage ich Jill. Nicht direkt und bisher auch nicht auf ihrer Farm. Dennoch hat sie die Ställe mit umfangreicher Überwachungs- und Alarmtechnik ausgestattet, denn auch in Kanada sind Tierschutzaktivisten nicht untätig.

Da ich die Wahl habe, werde ich auch weiterhin meine Eier direkt vom Bauern oder aus der Bodenhaltung kaufen, auch wenn ich der Meinung bin dass das Glück der Hühner keinen Einfluss hat auf den Geschmack der Eier, der wohl eher von ihrem Futter abhängt. Zugegebenermaßen ist das Futterangebot „glücklicher“ Hühner sicher abwechslungsreicher.

Nach der Besichtigung fahre ich in die Stadt. Ich habe mir für diese Nacht ein Hotel in Hafennähe genommen um den FidiBus am nächsten Tag rechtzeitig im Hafen abzuliefern. Pünktlich um acht treffe ich am nächsten Tag ein. Ein weiterer Reisender durfte ausnahmsweise erst heute sein Auto abliefern und so warten wir gemeinsam auf die Mitarbeiterin der Spedition. Ich zahle die Speditionsgebühr von einhundertfünfzig Dollar und erhalte dafür die Transportpapiere. Damit ist der Weg frei auf das Hafengelände.

Fertig für die große Reise

Eine Stunde später stehe ich mit kleinem Reisegepäck an der Bushaltestelle. Es fühlt sich für mich so an, als hätte mich soeben von einem geliebten Partner verabschiedet und ich wünsche dem FidiBus eine glückliche Reise. In einer Woche sehen wir uns in Hamburg wieder – so glaubte ich bis dahin.

Die nächsten sieben Tage bis zum Abflug habe ich mir eine Unterkunft über AirBnB gesucht. Sie liegt ziemlich außerhalb im Südwesten von Halifax. Mit dem Bus fahre ich fast eine Stunde bis zu meiner neuen Herberge und auch nach Dawntown sind es von dort aus fünfundvierzig Minuten mit dem Bus. Dafür ist die Haltestelle beinahe direkt vor der Türe. Der Bus ist ohnehin das beste Verkehrsmittel in Halifax. Busse fahren in einem dichten Takt, sind billig und für Rentner Dienstags frei.

Meine Herberge in Halifax

Meine neue Unterkunft ist exakt wie beschrieben. Durch die Haustüre betrete ich einen winzigen Flur. Wie gewünscht trete ich in den Hausflur, schließe die Tür bevor ich eine weitere Türe, zum Wohnzimmer öffne. Meine Gastgeber wünschten, dass ich darauf acht gebe, die Katze nicht nach draußen zu lassen, aber ich kann weit und breit keine Katze entdecken. Ich gehe durch das Wohnzimmer, vorbei an der Küche und dem gemeinsam mit den Gastgebern genutzten Bad und gelange zu der Treppe in den Ersten Stock, wo sich auf der linken Seite mein Zimmer befindet. Ich öffne die Zimmertüre und stelle mein Gepäck ab. Vor mir sehe ich einen Schreibtisch auf dem offensichtlich gebrauchte Handtücher herumliegen, ein Bett mit dem Bettzeug zu einem Haufen zusammengerafft, und der Papierkorb ist noch voll. Irgendetwas ist faul. Erst jetzt bemerke ich, dass ich nicht nach links, sondern nach rechts abgebogen bin. Ich schnappe mir mein Gepäck öffne die gegenüberliegende Türe und Tataaa! Alles ist sauber und aufgeräumt. Durch das Fenster sehe ich in die Gärten der Nachbarhäuser, das Bett ist bequem, ein Kühlschrank brummt vor sich hin und der Schreibtisch ist aufgeräumt. Im ersten Moment scheint mir das Zimmer recht kalt und ob die dünne Decke warm genug ist bezweifle ich. Später konnte ich diese Zweifel ausräumen. Nachdem ich mich in dem Zimmer eingerichtet habe, mache ich mich auf den Weg zum Bus und in die Stadt. Für die nächsten Tage ist dies mein täglicher Weg. Das Wetter ist sonnig und so laufe ich entlang der Waterfront, beobachte die ein-und auslaufenden Schiffe und genieße das spätsommerliche Treiben. Mein Handy schreckt mich aus meinen Träumen. Eine Nachricht von Seabridge trifft ein, die mir mitteilen, dass sie mich auf ein späteres Schiff gebucht haben, da ich mein Auto noch nicht im Hafen abgeliefert habe. Herrje, was ist schief gegangen. In Deutschland ist es kurz nach fünf. Ich muss das sofort klären und rufe bei Seabridge an. Dies sei wohl ein Versäumnis der Spedition in Halifax, man klärt das. Eine viertel Stunde später bekomme ich die Nachricht, dass es sich um einen Irrtum handelte, die alte Buchung sei wieder in Kraft.

Am Nachmittag treffe mich mit Stephan und Tanja vor dem Cruisship-Terminal. Wir ziehen gemeinsam um die Häuser, trinken einen Kaffee und gönnen uns eine Zimtschnecke und ehe wir uns versehen ist es Abend und kalt. Ich lade die Beiden ins Baton Rouge ein, ein Grillrestaurant, das ich noch von meinem ersten Besuch mit Jill und Wayne im Kopf habe. Tanja erzählte von ihrer neuen Arbeit, die sie seit diesem Monat hat. Es ist der gleiche Arbeitgeber, dem sie sechs Monate zuvor gekündigt hatte und wo sie als Assistentin der Geschäftsleitung nun im Homeoffice da anfängt, wo sie zuvor aufgehört hatte.

Dienstag: Wieder scheint die Sonne und ich mache mich auf den Weg in die Stadt. Eigentlich könnte ich mit der Fähre auf die andere Seite nach Dartmouth schippern und von dort nach Fishermans Cove laufen, das sind etwas mehr als zehn Kilometer. Gesagt getan. Immer am Ufer der Bucht entlang bietet sich mir ein tolles Bild der Stadt. Ich sehe den Hafen, die Brücken und auf dem Atlantik vor der Bucht – mein Schiff, die Atlantik Sea, die eigentlich heute mit meinem FidiBus den Hafen verlassen sollte.

Die Atlantic Sea in der Bucht vor Halifax

Noch drei Tage sollte sie dort draußen liegen. Zurück nehme ich dann doch den Bus und die Fähre. Das ist bequemer und obendrein heute kostenlos.

Mittwoch: Ich mache meinen täglichen Stadtrundgang. Probiere mich darin, auf einem Sagway die Waterfront entlangzufahren, was einen irren Spaß macht und… ich bin nicht gestürtzt!

Später am Abend holen Tanja und Stephan mich erneut am ab um mit mir in der Nähe der Waterfront bei einem Italiener essen zu gehen und wieder verging die Zeit wie im Flug. Es gibt so viel zu erzählen. Natürlich interessiert es mich, wie man als Migrant in Kanada lebt, was die Gründe waren um Deutschland endgültig den Rücken zuzuwenden und ein völlig neues Leben zu beginnen. Es gibt mir viel zu denken, als ich mich später am Abend in mein Bett lege und noch einmal den Tag und Tanjas und Stephans Geschichte an mir Revue passieren lasse.

Donnerstag: In einer Nebenstraße entdecke ich eine französische Bäckerei und ein einen französischen Metzger. Natürlich kaufe ich mir ein Baguette, etwas Käse und Schinken, genug damit es heute für ein Vesper an der Uferpromenade, für das Abendessen und das morgige Frühstück reicht. Ich laufe bis mir am Abend die Füße weh tun.

Halifax von Dartmouth gesehen
Macdonald Brücke , Halifax

Freitag: Heute werde ich eine Stadtrundfahrt per Bus machen. Mit mehreren Linien durchkreuze ich die Stadt von Ost nach West, von Nord nach Süd und dann beschließe ich noch einmal hinüber zu fahren nach Fishermans Cove. Ein nettes Fischrestaurant lockt mich dort mit einer köstlichen Fischplatte. Vom Panoramafenster des Lokals aus sehe ich, dass die Atlantic Sea nicht mehr in der Bucht liegt. Die Abfahrt ist für heute Abend geplant. Endlich!

Fischermans Cove
Fishermans Cove

Nach dem Abendessen mag ich noch nicht gleich in mein Zimmer zurückkehren. Wartet da nicht noch ein Besuch im Oxfort Tap Room auf mich? Ich hatte es versprochen noch einmal zurückzukehren bevor ich abreise. Mit dem Bus fahre ich also zur Oxford Street Ecke Quinpool Road öffne die Türe zum Tap Room da steht fast die gesamte Crew hinter der Theke, als hätten sie bloß auf mich gewartet. Und tatsächlich, sie erkennen mich wieder, ich werde mit Namen begrüßt und ich musste erzählen, was ich auf meiner Reise erlebt habe. Ich werde der neuen Bedienung vorgestellt. Das allgemeine Thekengespräch ist mein FidiBus und wie ich ihn nach Canada einschiffte, was Benzin seit dem Ukrainekrieg in Deutschland kostet und ob wir Angst vor einem Atomkrieg haben. Einige Dunkel Biere später und mit dem Gefühl vor Glück zu schweben wird es Zeit den Bus zurück zu nehmen. Der letzte Abend in Halifax.

Und dann ist er da, der Samstag der zweiundzwanzigste Oktober. Unwiderruflich mein letzter Tag in Kanada. Mein Rucksack und die Reisetasche stehen gepackt im Zimmer und pünktlich um halb zehn stehen Jill und Wayne vor meiner Haustüre. Wayne möchte mir noch einen Teil der Stadt und des Umlandes zeigen, das ich noch nicht kenne. Immer am Wasser entlang passieren wir prächtige Siedlungen, schöne Parks und hin und wieder biegt Wayne ab und zeigt mir und Jill wohin er seinen Betonmischer lenkte. Hier hatte er eine Platte gegossen, dort eine Garagenzufahrt und an einer anderen Stelle lud er seine Fracht ab um den Treppenaufgang zu einer Villa zu gießen. Es ist eine Freude zu sehen, mit welchem Stolz ihn diese Arbeit erfüllt. Er erzählt mir von den Problemen, die beim Transport von Beton entstehen können, von der, im wahrsten Sinne des Wortes, harten Arbeit, wenn wiedereinmal der Truck nicht rechtzeitig entladen werden konnte. Wir erreichen unser Ziel in Coal Harbour, einem Restaurant in das mich die Beiden zum Brunch eingeladen haben. Es ist reichlich. Toast Eier, gebackener Schinken und Kaffee bis zum Abwinken. Jill fragt die Bedienung, ob sie wisse woher die Eier kämen. Etwas verlegen zog die junge Frau die Schultern hoch und nannte in ahnungslos zweifelndem Ton den Namen eines Großhandels. Falsch! Natürlich waren sie von Jills Eierfarm. Ich muss dann noch einmal nachhaken und fragte sie, ob sie denn auch wisse woher der Schinken stamme. Fast verzweifelt schaute sie nun mich an, sich fragend ob dieses mal ich der Lieferant sein könne; doch ich kläre die Sache rasch auf indem ich ihr erkläre dass ich das auch nicht weiß. Mit roten Wangen und sichtbar verlegen verabschiedete sie sich. Jill und Wayne haben noch einen Fototermin mit Waynes Familie und so liefern sie mich bei Ainslie und Sharon ab. Nach dem obligatorischen Drink laden sie mich ein, mit ihnen eine Spritztour zu unternehmen. Sie wollen mir noch etwas zeigen. Also steige ich in ihr Auto und wir fahren nach Westen, vorbei an Seen durch Wälder, ich sehe den Atlantik und dann biegen vom Highway ab und gelangen an einen weiteren Seen den Gaetz See. Hier steht ihr Sommerhaus. Der Hurrikan hat auf dem Grundstück seine Spuren hinterlassen. Bäume sind umgestürzt, der Bootssteg ist kaputt aber das Haus selbst ist verschont geblieben. Ob dies nicht ein schöner Platz sei, mir hier ein Haus zu kaufen oder zu bauen fragt Ainslie mich und er zeigt mir ein Haus, dass etwa einen Kilometer am Ufer des Sees liegt. Dieses Haus könne ich kaufen. Besser wäre es jedoch es abzureißen und ein neues Haus zu bauen. Grund und Boden gehören der Familie und auch die Insel, die im See liegt ist Familieneigentum. Das Haus welches dort zu sehen ist, gehört einem Freund. Es ist ein Traum und wieder zweifele ich ob ich es mir nicht doch überlegen sollte, wenigstens im Sommer hier in Kanada zu wohnen.

Vielleicht sollte ich den Gedanken nicht ganz aufgeben. Zunächst einmal biete ich Ainsley und Sharon an, ihr Haus und das Grundstück von den Sturmschäden zu befreien, sollte ich mich entschließen im nächsten Jahr wiederzukommen. Eine Idee, die bei den beiden auf offene Ohren stößt. Wohnen könne ich ja in der Zeit in ihrer Cabin. Herrjeh, ich sehe mich bereits mit einem Glas Rotwein und einem Buch im Schaukelstuhl auf der Veranda sitzen und zusehen, wie die Sonne am gegenüberliegenden Ufer hinter dem Horizont versinkt. Am Bootssteg dümpelt mein Kanu und Eichhörnchen huschen über die Äste. Wahrscheinlich ist das nur ein Traum, aber es ist ein schöner Traum.

Wayne holt mich halb sieben bei Sharon und Ainslie ab und bringt mich zum Flughafen. Es fühlt sich unwirklich an. Ich gebe meinen Rucksack ab, erledige die Check-In Formalitäten und dann stehe ich da und warte auf das Boarding. Ist es wirklich zu Ende? Zweieinhalb Jahre Warten, zweieinhalb Jahre hoffen, dass Covid nicht erneut zuschlägt, zweieinhalb Jahre fiebern, den Fuß endlich auf kanadischen Boden setzen zu dürfen. Ab heute beginnt das Erinnern. Pünktlich um zweiundzwanzig Uhr fünfzehn hebe ich ab in die Nacht.