Ich bin also wieder zurück in Whitehorse. Irgendwie scheint die Stadt Dreh- und Angelpunkt meines Roadtrips durch Yukon Territory zu sein. Nach einer ruhigen Nacht am Schwatka Lake bringe ich als erstes den Ersatzreifen zurück, fahre weiter zu John und montiere die neuen Bremsbeläge und fahre anschließend in die Stadt. Mein Brot geht zu Ende und wo bekäme ich ein besseres Brot als in der Alpine Bakery mit ihrem fantastischen Brot. Danach beschließe ich meinem FidiBus mit einem Ölwechsel etwas Gutes zu tun. Es ist mittlerweile um vier, früh genug um noch ein Stück in Richtung Watson Lake zu fahren. Ich denke noch einmal an die Bäckerei und frage mich, weshalb ich sie eigentlich nicht in meiner Dokumentation bedacht habe. Es gibt ja nichts, was sich nicht noch ändern ließe, also wende ich, fahre zurück nach Whitehorse, komme vor Ladenschluss in der Alpine Bakery an und frage nach der Chefin oder dem Chef, stelle meine Idee vor, den Werdegang eines Brotes vom Teig zum fertigen Brot zu filmen. Silvia ist sofort dabei, müsse das aber über das Wochenende noch mit ihrem Mann besprechen. Noch am selben Abend bekomme ich ich die Nachricht, dass sie mich am Dienstag Morgen um halb vier in der Bäckerei erwarten. Hurra, ein spannendes Projekt nimmt seinen Lauf.
Bis Dienstag habe ich noch vier Tage Zeit und so beschließe ich, mich nach Atlin auf den Weg zu machen, das von Whitehorse zweihundert Kilometer entfernt ist. Schon die Fahrt dorthin über Carcross ist einfach toll. Es ist warm, die Sonne scheint und ich cruise einfach so dahin. Am Little Atlin Lake finde ich ein schönes Plätzchen für die Nacht. Es liegt nahe der Straße, aber es ist ruhig. Vom See her ertönen Stimmen. Mit dem Fernglas erkenne ich ein Kanu, das mit drei Personen besetzt hin und her über den See fährt. Dann wird es auch schon Zeit ins Bett zu gehen. Atlin ist ein Dorf an einem der Enden der Welt. Die Straße endet kurz hinter Atlin, Telefonisch ist der Ort nur über das Festnetz zu erreichen. Die Bürger haben sich bisher erfolgreich gewehrt, ein Mobilfunknetz aufzubauen. Auch einen Südlichen Anschluss der Straße nach Juneau, der von den USA bezahlt worden wäre, fand vor den Augen der Gemeinde keine Gnade. Wie so viele kleine Gemeinden im Yukon und in British Columbia verdankt auch Atlin seine Existenz dem Goldrausch. Und noch immer ist er hier hautnah zu spüren. In die nahen Berge führen immer wieder Straßen hinauf zu den Minen, die manch einer Familie ein gutes Auskommen sichern. Doch zunächst einmal suche ich mir einen geeigneten Platz zum übernachten. Der offizielle Campingplatz ist einfach nur hässlich und außerdem besetzt von riesigen Wohnmobilen und Motorhomes. Hier möchte ich nicht eine Nacht bleiben. Auf meinem Gang durch den Ort fällt mir das kleine Museum auf. Es ist sehr hübsch. Es stellt das Leben um 1890 bis heute dar. Bis in die fünfziger Jahre war Atlin nur aus der Luft, zu Wasser oder im Winter mit Hundeschlitten zu erreichen. Das Leben hier in der Abgeschiedenheit war hart. Schon früh wurde hier eine RCMP-Station errichtet und ein Gericht etabliert. Die Dame im Museum erklärte mir dann, dass ich doch mit meinem Auto auf der großen Wiese des Parks übernachten solle. Dort gäbe es Feuerstellen und Picknicktische und es koste nichts. Ein guter Rat, wie sich herausstellen sollte. Ich richte mich also auf der Wiese des Parks ein und werde sogleich von den Hunden eines weiteren Wohnmobilbesitzers verbellt. Grund genug mit dem Hundebesitzer ins Gespräch zu kommen.
Während ich mir mein Mittagessen bereite, kommt Greg herüber. Er möchte mit seinem Quad, hier nennt man sie Sidebyside, am See entlang fahren um zu einem schönen Aussichtspunkt zu gelangen. Er würde sich freuen, wenn ich mitkäme. Ich lasse mich nicht lange bitten, stelle meinen Kocher aus und springe auf. Über die Straße, Trampelpfade und dann über Stock und Stein holpern wir auf diesem kleinen Geländefahrzeug an ein ruhiges und unberührtes Seeufer, doch der erwartete Ausblick auf einen großen Gletscher bleibt im Verborgenen. Also stoßen wir weiter in das unwegsame Gelände vor. Völlig unerwartet steigt Greg auf die Bremse. Was ist los. Dann sehe ich es. Ein Braunbär! Er trottet gemächlich durch das Gebüsch, reißt hier ein paar Beeren und dort ein paar Beeren und es sieht so aus, als wolle er bewusst nicht erst alle Beeren des einen, dann die des anderen Busches fressen.
Und dann wird der Blick frei auf die weiße Fläche des Gletschers. Etwa zehn Kilometer ist er entfernt, doch noch näher werden wir heute nicht heran kommen. Dennoch packt uns die Begeisterung und immer wieder sehen wir sie vor uns, die lange Schlange der Stampeders die sich vom Gletscher zum Ufer des Lake Atlin bewegt um auf ihm den Weg von Skagway über den Lake Atlin, den Marsh Lake bis zum Yukon zu gelangen und von dort weiter auf dem Yukon nach Dawson City, dem Traum vom Reichtum zu folgend.
Doch wir finden zurück ins Jetzt und Heute, am Seeufer finden wir wunderbares trockenes Schwemmholz, das wir einsammeln und für unser Feuer auf der Ladefläche verstauen. Wir essen gemeinsam, trinken ein paar Biere und verabreden uns am nächsten Morgen zum Frühstück in seinem Camper. Pünktlich klopfe ich am nächsten Morgen an Gregs Türe. Sein Wagen ist im Vergleich zu anderen Campern recht gemütlich eingerichtet. Ein großer Salon mit grauer Ledercouch, ein großer Tisch, ein geräumiges Bad mit Toilette und Dusche und eine vollwertige Küche. Eigentlich ein Tinyhouse, ausreichend für zwei Personen. Greg brät ein paar Lachsfilets, Spiegelei und Speck. Er erzählt von seiner Familie. Seine Frau ist First Nation aus Whitehorse, seine Tochter und sein Sohn sind hier in Atlin zur Hochzeit eines Freundes eingeladen. Er ist hier um bei Bedarf auf die Enkelkinder aufzupassen. Ich habe den Eindruck, er ist froh sich mit mir die Zeit zu vertreiben. Es gibt so viele Probleme. Er ist krank und erholt sich gerade von einem Infarkt. Auch seine Frau ist krank, doch ihre Krankheit ist eine andere, eine, die mit Medikamenten allein nicht zu heilen ist und die leider unter First Nations nicht selten ist. Bevor er in den Ruhestand gegangen ist arbeitet Greg als Mechaniker bei Swiss Air, solange es die noch gab. Dann machte er so dies und das, was wohl die häufigste Jobbeschreibung der Menschen in Yukon ist. Er bietet mir an, die Wartezeit bis zum Dreh in der Alpine Bakery bei ihm zu schlafen, er hätte genügend Platz. Am Montag morgen fahren Greg und ich zurück nach Whitehorse, er fährt noch einmal zwischendurch zu einem See zum Angeln.
Es ist ein gutes Gefühl, wenn ich merke, dass die Menschen Vertrauen zu mir haben, ihre Geschichten erzählen und sich wünschen, den Kontakt aufrecht zu erhalten. Inzwischen ist dies ein wenig anstrengend. Beinahe täglich bekomme ich eine Nachricht mit der Frage wo ich stecke, was ich tue und ob alles mit mir und mit dem FidiBus okay ist. Schließlich wünschen sich alle eine Antwort und habe ich es mir zur Gewohnheit gemacht, nach dem Frühstück erst einmal meine Antworten zu formulieren. Dank der hilfreichen Kommunikationstechnik werden die selbständig versendet, sobald ein Telefonnetz verfügbar ist.
Am Abend verabreden Greg und ich uns erneut in einer Bar, etwa zehn Kilometer nördlich von Whitehorse. Greg möchte meine Einstellung zu Amerika wissen. Wegen meiner traumatischen Beziehung zu diesem Land warne ich ihn vor, er dürfe von mir nicht unbedingt ein objektives Bild erwarten, denn so sehr ich mir auch Mühe gebe, immer schwingt meine unglückliche Zeit in den USA hinein und verfärbt das Bild wie ein Tropfen Tinte in einem Eimer Wasser. Wir diskutieren die Rolle der USA im Ukrainekrieg und in China. Europa und sein Bild von Kanada, und wieder Europa und Ukraine. Die Themen sind kompliziert. Wir setzen das Gespräch bei ihm zuhause fort und am Ende bietet er mir erneut an, bei ihm zu übernachten. Doch zwanzig Kilometer nachts um drei bis nach Whitehorse zu fahren ist mir dann doch zu aufwendig. Um elf Uhr nachts steht mein FidiBus also wieder am gewohnten Platz an der Staumauer. Ich bin ein wenig aufgeregt, denn gleich ist es so weit. Die Alpine Bakery wartet.
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