Es ist der fünfundzwanzigste August und damit der achtundneunzigste Tag meiner Reise, davon 88 Tage im FidiBus. Mein Plan ist es. Am Dienstag dem 30. August in Vancouver zu sein. Es wäre schön, wenn ich dort noch einmal Lina und Philipp träfe. Doch der Weg dahin ist noch weit. Es sind auf meiner geplanten Strecke etwas mehr als eintausend Kilometer, doch dafür sollten mir die fünf Tage reichen. Zweihundert Kilometer am Tag sind nicht viel, zumal die Strecke bis bis Prince George und von dort aus weiter in Richtung Jasper ohne große Attraktionen ist. Bis Jasper sind es gut fünfhundert Kilometer, also werde ich dazwischen irgendwo übernachten. Vielleicht in Tête Jaune Cache.

Das erste Stück der Strecke, bis nach Quesnel ist wieder sehr schön. Doch zunächst schaue ich noch einmal in das kleine Städtchen Wells, das mir wegen seiner bunten Hausfassaden von der Straße her aufgefallen ist.

Bevor ich Wells erreiche fällt mir ein Holzhaus an der Straße auf,dass über und über mit Schrott geschmückt ist. Ich stehe vor dem Haus und stelle mir vor, dass Jack London jeden Augenblich aus der Haustür tritt. Die Hütte ist bewohnt, das ist deutlich zu erkennen. Anders als man es sonst hier so häufig sieht, wo die Grundstücke ausschauen, als befände man sich auf einer Mülldeponie, ist hier der Schrott liebevoll um die Hütte herum drapiert und man kommt gar nicht auf den Gedanken, er wäre einfach nur achtlos entsorgt worden. Jedes Stück liegt genau dort, wo er seinen Charme am besten zur Geltung bringt. Später frage ich in einem Café, was es mit dieser Hütte auf sich hat und ich erfahre, dass es sich um das ehemalige Bordell handelt, dass man aus verständlichen Gründen nicht in Barkerville haben wollte, wo sich die Herren zu sehr unter der Beobachtung der Familien fühlten. Also verlagerte man es ein paar Kilometer aus Barkerville heraus und verzichtete auf jedwede Werbung und Hinweise, wodurch es dem unerfahrenen Reisenden wie ein normales Haus erschien. Heute gehört das Haus einem Fremden, den man im Ort aber kaum zu Gesicht bekäme. Wells entstand etwa zur gleichen Zeit wie Barkerville, aber im Gegensatz zu diesem machte man aus Wells kein Museumsdorf sondern es ist ein kleiner belebter Ort mit ein paar Bars, einem Theater und einigen Galerien. Aus der Nähe betrachtet ist Wells dann weniger attraktiv. Die bunten Fassaden sind nur zum Highway ausgerichtet und nur wenige Gebäude sind aus den alten Zeiten übrig geblieben. Sanfte Hügel bilden das Vorland zu den Steilen Hängen der Cariboo Mountains, die nun hinter mir liegen. Immer mehr öffnet sich das Land und große Weideflächen wechseln mit sich mit Feldern ab. Es ist heiß und die Luft ist feucht. Die richtige Mischung für das abendliche Gewitter.

In Prince George möchte ich noch einmal schnell bei Tim Hortens vorbeischauen, einen Kaffee trinken, aber der eigentliche Grund ist das kostenlose Internet. Doch irgendwie habe ich mich mit der Abfahrt vertan und rausche an Prince George vorbei. Von nun an cruise ich stundenlang auf dem Highway #16, dem Yellowhead Highway Richtung Tête Jaune Cache. Gegen fünf Uhr reicht es mir. Vor mir liegt der Ort McBride. Einer jener Orte, die so typisch für die Nordamerikanischen Vorstädte ist. Rechtwinklig verlaufen die Straßen zwischen Bahn und Highway. Zwei Hotels, die schmucklos nur mit der Aufschrift „Hotel“ um Gäste werben. Zumeist sind es Mitarbeiter der Bahn, des Straßenbaus oder der Forstbetriebe, die hier untergekommen sind.

Gleich am Ortseingang springt mir ein großes Schild in Auge, welches ein Kühles Bier und eine Sonnenterasse im Giggling Grizzly verspricht. Dieser Verlockung im kichernden Grizzly kann ich nicht widerstehen. Nach einem Bier und einem Wein befrage ich meine App nach einem Schlafplatz und tatsächlich gibt es hier einen Platz mit einer spektakulären Aussicht, etwa sechs Kilometer außerhalb der Stadt, auf einem Berg gelegen. Die Straße dort hinauf ist ein schmaler Schotterweg, sehr steil und, so verkündet es ein Schild, bei Regen nicht befahrbar. Es regnet ja noch nicht, also weiter! Im ersten Gang arbeite ich mich Meter um Meter nach oben. An den steilsten Stellen drehen die Vorderräder ein paar mal durch und immer wenn ich denke, das war’s dann wohl, finden sie neuen Halt und es geht wieder weiter. Nach vierzig Minuten befinde ich mich eintausendzweihundert Meter oberhalb von McBride. Eine Hahltebucht, ein Klohäuschen und eine traumhafte Aussicht belohnen mich für den aufregenden Anstieg. Ich schaue hinüber zu den Osthängen der Cariboo Mountains, an deren westlicher Flanke ich heute morgen gestartet bin. Es sind nur rund sechzig Kilometer Luftlinie, die mich vom Start zu meinem Tagesziel trennen. Von noch weiter oben höre ich den Motor eines Motorrades und zwei Minuten später steht es neben mir. Eine Frau und ein Mann, beide nicht viel älter als Mitte zwanzig, steigen ab. Wir wechseln ein paar Worte. Rob arbeitet im Wald, drüben, am gegenüberliegenden Hang und Rochelle ist zu Besuch bei ihm. Sie wohnt in Edmonten Sie gibt mir ihre Telefonnummer und bietet mir an, sie anzurufen, falls ich wieder nach Edmonten komme und Lust auf eine Dusche hätte. Und dann geben wir uns dem Schauspiel des Sonnenuntergangs hin. Wieviele Sonnenuntergänge mag ich wohl schon erlebt haben und doch ist es immer wieder ein Schauspiel, dessen Dramaturgie von der Kulisse geschrieben wird, in der es sich abspielt. In den letzten Momenten, bevor die Sonne hinter den Bergen den Tag beendet, wird sie noch einmal für einen Augenblick als runde wabernde Scheibe sichtbar und dann kündet nur noch ihr immer roter werdendes Licht von ihrer Existenz. Wieder entsteht vor meinen Augen das Bild unserer Erde, wie sie im scheinbaren Chaos des Weltalls dahintreibt, sich mehr und mehr von der Sonne entfernt und eines Tages, in vielen Milliarden Jahren die schützende Distanz, die uns einerseits vor dem Verbrennen, andererseits vor dem Erfrieren schützt verlässt. Was wird bis dahin sein? Wir diese Frage für uns Menschen bis dahin überhaupt noch von Relevanz sein? Die Nacht bricht herein, die Milchstraße zeigt sich am Himmel, der große Wagen, das Himmels „W“ und es umgibt mich die absolute Stille. Zeit zu Bett zu gehen.